«Statt vorhandene Hürden abzubauen, werden immer neue geschaffen»

«Statt vorhandene Hürden abzubauen, werden immer neue geschaffen»

Was passiert, wenn Europa wirtschaftlich und technologisch den Anschluss verliert. Lino Guzzella, langjähriger ETH-Präsident und international vernetzter Technologieberater, spricht am diesjährigen Tag der Wirtschaft.

Standpunkt: Herr Guzzella, wenn Europa wirtschaftlich oder technologisch bremst – bremst die Schweiz mit?
Lino Guzzella: Man müsste wohl eher sagen, dann wird die Schweiz gebremst. Trotz der grundsätzlich globalen Ausrichtung unserer Wirtschaft ist Europa, und da besonders Deutschland, für viele KMU immer noch der wichtigste Absatzmarkt.

Sie kennen den internationalen Forschungs- und Innovationsraum bestens. Wie stark ist die Schweiz heute auf Europa angewiesen – und wo kann sie sich emanzipieren?
Grundlagenforschung kennt keine Grenzen. Nur wenn sie global ausgerichtet ist, kann sie an der Spitze dabei sein. Partnerschaften sind daher mit allen Weltgegenden nötig, eben dort, wo zu einem bestimmten Thema die klügsten Köpfe forschen. Bei Innovationen, also anwendungsorientierte und vor allem wirtschaftsnahe Kooperationen und Start-ups, ist eine geografische und kulturelle Nähe von Vorteil – und da bietet die EU mit einem Markt von 450 Millionen Menschen schon attraktive Optionen.

Der Ausschluss aus Horizon Europe und anderen EU-Programmen sorgt für Verunsicherung. Wie beurteilen Sie die konkreten Auswirkungen für den Forschungsstandort Schweiz?
Das muss man differenziert ansehen. Es gibt einerseits die Programmforschung, bei der grosse Konglomerate aus Universitäten und Firmen an spezifischen Themen arbeiten. Diesen Ansatz halte ich für weder besonders effektiv noch effizient. Ein grosser bürokratischer Aufwand steht oft eher bescheidenen Resultaten gegenüber. Andererseits gibt es aber die individuellen Forschungsförderungen an einzelne Personen, insbesondere die ERC-Grants. Diese personenbezogene Forschungsförderung ist zielführend und hat sich weltweit einen guten Ruf erarbeitet, weil sie kompetitiv ausgerichtet ist.

Sie begleiten heute strategische Technologieprojekte im Energie- und Mobilitätsbereich. Spüren Sie dort bereits die Folgen einer europäischen Bremswirkung – sei es in Regulierung, Tempo oder Koordination?
Nun, wirklich gute Projekte finden immer die nötigen Ressourcen. Zudem ist die Schweiz bezüglich Forschungsleistungen nicht schlecht unterwegs. Mit knapp 3,5 Prozent des Bruttosozialprodukts ist die Schweiz bei den Forschungsausgaben im internationalen Spitzenfeld. Da zwei Drittel dieser Ausgaben von der Wirtschaft geleistet werden, ist das aktuell schwierige ökonomische Umfeld eher das Problem. Ich hoffe sehr, dass hier die Politik und die Wirtschaft eine langfristige Perspektive einnehmen.

Was kann – oder muss – der Schweizer Staat tun, um eigenständig wettbewerbsfähig zu bleiben, wenn das europäische Umfeld weniger dynamisch wird?
Wir müssen uns auf die alten Tugenden besinnen, das heisst gleiche Chancen für alle bieten und Durchlässigkeiten schaffen, aber meritokratische Auswahlverfahren auf allen Stufen beibehalten. Das duale Berufssystem ist eine weitere Stärke, welche unbedingt ausgebaut werden muss. Und na ja, weniger TikTok und mehr Mathematik würde auch helfen …

Als früherer ETH-Präsident und heutiger Berater kennen Sie die Anforderungen an die nächste Generation von Fach- und Führungskräften. Wie gut ist die Schweiz darauf vorbereitet?
Da bin ich mir – leider – nicht so sicher, ob die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten optimal war. Ich stelle zwar einerseits fest, dass eine immer grössere Anzahl an jungen Menschen an die Hochschulen drängt und dass – mindestens an der ETH – durchaus auch MINT-Disziplinen populär sind. Andererseits habe ich den Eindruck, dass die Fähigkeit und der Wille, konzentriert und fokussiert länger an einem Problem zu arbeiten, eher abnimmt. Man sucht immer mehr den «quick fix», und das kritische Denken ist nicht mehr en vogue. Das führt dann zu «Boom and bust»-Zyklen und zu grossen Enttäuschungen.

Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht die Rolle von Bildung und Unternehmertum, um in einem sich abschwächenden europäischen Umfeld langfristig erfolgreich zu bleiben?
Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Schweiz ihren Wohlstand zu einem grossen Teil den intellektuellen Leistungen der Vorgenerationen zu verdanken hat. Und ohne Bildung gibt es solche Leistungen nicht. Beim Unternehmertum gibt es schon eher Fragezeichen. Trotz all den Anstrengungen, zum Beispiel bei der «Start-up»-Förderung, spürt man manchmal immer noch ein latentes Misstrauen gegenüber dem Unternehmertum. Statt vorhandene Hürden abzubauen, werden immer neue geschaffen – und das wird sich mit der Zeit rächen.

Wenn Sie heute ein technologieorientiertes Jungunternehmen gründen würden – würden Sie das in der Schweiz tun?
Sicher, ich bin ja Schweizer, lebe hier, und die Voraussetzungen sind in der Schweiz durchaus attraktiv. Aber diese Firma müsste von Anfang an eine Strategie entwickeln, wie sie aus dem zu kleinen Schweizer Markt in die richtigen grösseren Absatzmärkte wachsen kann.

Was wünschen Sie sich vom Tag der Wirtschaft – und was möchten Sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit auf den Weg geben?
Eine der Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Schweiz ist eine zuverlässige, umweltschonende und kostengünstige Energieversorgung. Wenn diese funktioniert, vergisst man das schnell, aber wenn Störungen auftreten, ist es oft zu spät, um Gegensteuer zu geben. Daher mein Appell an alle, dieser Frage genug Aufmerksamkeit zu geben.

Fr. 19. September 2025