Standpunkt: Herr Schaltegger, der globale Wirtschaftsmotor stottert. Etliche Staaten verzeichnen Rekordschulden, hinzu kommen enorme Haushaltsausgaben sowie Inflation. Es droht ein grosser Börsencrash, und der US-Dollar befindet sich im Sinkflug. Stehen wir am Anfang einer globalen Rezession?
Christoph Schaltegger: Ich kenne die Zukunft genausowenig wie Sie. Aber Sie haben recht: Insbesondere die Lage im Westen ist ungemütlich. Die Gleichzeitigkeit von geopolitischen Herausforderungen und klammen Haushalten, von politischer Orientierungslosigkeit und dogmatischem Anspruchsdenken macht Sorgen.
Standpunkt: In einem Interview haben Sie gesagt: «Die Bürger wissen, dass die Schulden von heute die Steuern von morgen sind.» Welche Generation wird die Schulden bezahlen müssen – und mit welchen Folgen?
Christoph Schaltegger: Ich habe dies in einem Interview in der österreichischen Sonntagszeitung Die Presse gesagt. Das Sprichwort geht zurück auf den grossartigen Ökonomen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts: David Ricardo. Er wird aus meiner Sicht sehr oft missverstanden. Die finanzpolitische Essenz aus seiner «Äquivalenzthese von Schulden und Steuern» ist, dass sich die reale Last des Staats für die Bürger nicht aus den Steuern oder den Schulden ergibt, sondern aus den Ausgaben. Die Lehre, die wir von Ricardo mitnehmen können: Wer sich Ausgaben leistet, bürdet sich gleichzeitig auch die Finanzierungslast auf. Ob dies direkt über Steuern oder indirekt über Schulden geschieht, ist grundsätzlich für die Finanzierungslast nicht erheblich. Schulden holen einen immer irgendwie wieder ein. Dieser einfache Zusammenhang geht vor allem die Politik etwas an, der fremdes Geld anvertraut wird.
Standpunkt: Eine andere Aussage von Ihnen lautet: Früher sei seriösere Finanzpolitik betrieben worden. Was meinen Sie damit?
Christoph Schaltegger: Wenn ich mich an die Debatte der späten 1990er-Jahre zurückerinnere, in der ordnungspolitische Zukunftsfragen mit grossem Sachverstand geführt und die Schuldenbremse verhandelt wurden, so haben uns die 20 guten Jahre seither augenscheinlich zu finanzpolitischer Sorglosigkeit verführt. Und Finanzpolitik ist mehr als Buchhaltung. Bereits der österreichische Soziologe Rudolf Goldscheid ermunterte uns zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einen genauen Blick auf die Finanzpolitik zu werfen, wenn wir die Geschichte verstehen wollen: «Das Budget ist gleichsam das aller verbrämenden Ideologie entkleidete Gerippe des Staates.»
Standpunkt: Der Wohlfahrtsstaat verschlingt hohe Summen und belastet den Mittelstand. Wie lange können wir uns diese Ausgaben noch leisten?
Christoph Schaltegger: Tatsächlich leiden viele Budgets entwickelter Länder unter der sogenannten «sozialen Dominanz». Das heisst, die Ausgaben des Sozialstaats verdrängen allmählich die anderen Staatsausgaben. Das gilt auch für die Schweiz. In der Schweiz wachsen die Ausgaben für die soziale Wohlfahrt jedes Jahr weit stärker als die anderen Ausgaben. Das führt zwangsläufig zu hohen Belastungen und Verteilungskonflikten.
Standpunkt: Muss die Politik vermehrt über Schuldenbremsen und Budgetkürzungen diskutieren, um die Ausgaben zu drosseln?
Christoph Schaltegger: Letztlich muss jede Demokratie mit dem Geld auskommen, das sie bereit ist, von ihren Bürgern einzutreiben. Wenn Ausgaben über längere Zeit viel stärker wachsen als es das Sozialprodukt hergibt, wird es in einer Demokratie schwierig, die Finanzierung zu sichern. Daher sind Regeln wie die Schuldenbremsen sehr wichtig. Was schon für Odysseus galt, gilt auch für heutige Politiker: Selbstbindung ist ein geeignetes Mittel, um gefährlichen Verlockungen zu widerstehen.
Standpunkt: Rund zwei Drittel der Bundesausgaben sind heute rechtlich gebunden. Gibt es überhaupt noch Spielraum für Einsparungen?
Christoph Schaltegger: Eine seriöse Finanzpolitik setzt strategische Prioritäten und leitet daraus den notwendigen Finanzbedarf ab. Von dieser Aufgabe befreit auch eine rechtlich mehr oder weniger starke Ausgabenbindung die Politik nicht.
Standpunkt: Sparen und der Abbau von staatlichen Leistungen sind sehr unpopulär, wie die Abwahl von Premierminister Rishi Sunak (Tories) in Grossbritannien zeigt. Sehen Sie Parallelen zur Schweiz?
Christoph Schaltegger: Nein. Die wissenschaftliche Literatur dazu ist viel ermutigender: Wer erfolgreich spart, braucht die Wahlen nicht zu fürchten. Denn er lässt den Bürgern mehr Geld und schafft Vertrauen in die Institutionen, was wiederum die Investitionstätigkeit mittelfristig begünstigt. Erfolgreich heisst insbesondere, die Ausgabenseite nicht zu verschonen und sich an die sensiblen Bereiche der öffentlichen Verwaltung und der Transfers heranzuwagen. Nur die Steuern zu erhöhen reicht halt nicht aus – das ist zwar kurzfristig bequem, aber längerfristig für die Volkswirtschaft schädlich.
Standpunkt: Kritiker von Budget- und Ausgabenkürzungen sagen, dass Sparprogramme immer die Ärmsten treffen und nie die Wohlhabenden ...
Christoph Schaltegger: Das ist tatsächlich ein wichtiger Punkt: Sparprogramme sollten keine soziale Schlagseite aufweisen. Wer lediglich bereit ist, bei den Ausgaben der anderen Seite zu sparen, sieht sich schnell im politischen Abnützungskrieg. Für erfolgreiche Sparprogramme ist die Opfersymmetrie ein wichtiger Grundsatz.
Standpunkt: Die Zuwanderung gilt als Notwendigkeit für die Schweizer Wirtschaft, um den Fachkräftemangel zu egalisieren und wirtschaftlich zu wachsen. Doch Immigration führt auch zu hohen Kosten, etwa bei der Infrastruktur oder im Sozialwesen. Ist die Einwanderung aus volkswirtschaftlicher Sicht tatsächlich ein Gewinn?
Christoph Schaltegger: Zuwanderung macht uns alle reicher, weil wir von Talenten genauso profitieren können wie uns diese Talente auch selbst zu mehr Engagement anspornen. Aber alles ist eine Frage des Masses. Eine ungehinderte Zuwanderung, wie wir sie im Moment mit der Personenfreizügigkeit gegenüber der EU praktizieren, ist riskant und setzt uns unter Dichtestress. Wenn uns der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Schweiz wichtig ist, sollten wir ein Regime finden, das selektiver ist und gezielter auswählt. Ich plädiere dafür, dass wir die Zuwanderung über einen marktwirtschaftlichen Ansatz steuern: also über einen Eintrittspreis.
Standpunkt: Neue Jobmodelle wie Teilzeit und reduziertes Arbeitspensum sind beliebt. Welche wirtschaftlichen Folgen sehen Sie, wenn sich dieser Trend weiter zunimmt?
Christoph Schaltegger: Einerseits ist es schön, dass wir als reiche Gesellschaft nicht nur in der Arbeit unsere Erfüllung finden müssen. Andererseits funktioniert eine Gesellschaft nur, wenn Leistung, Fleiss und Engagement einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert einnehmen. Freude an Arbeit und Erfolg, am Erschaffen und Ermöglichen, an Ausdauer und Disziplin sollten wir hochhalten. Wer Teilzeit und reduziertes Arbeitspensum für wichtig hält, muss bereit sein, beim Wohlstand Abstriche in Kauf zu nehmen. Das gilt auch für die Staatsleistungen.
Standpunkt: Und wie steht es mit Homeoffice?
Christoph Schaltegger: Die Arbeitswelt verändert sich, und Homeoffice gehört heute dazu. Die euphorischen Erwartungen, dass damit die Arbeitsproduktivität steigt, haben sich aber nicht bewahrheitet. Auch hier ist es Zeit, sich von Illusionen zu trennen: von nichts kommt nichts.
Standpunkt: Der Staat erhält ständig neue Aufgaben, und die Steuerzahlenden müssen eine wachsende Zahl von Staatsangestellten finanzieren. Welche Gefahren birgt ein aufgeblähter Staat?
Christoph Schaltegger: Das ist ein wichtiger Punkt: Unsere Forschung zeigt, dass der Staat und die staatsnahen Unternehmen schneller wachsen als die Privatwirtschaft. Das geht mittelfristig mit einer stärkeren Steuerbelastung einher, wenn wir den Trend nicht stoppen. Und diese belastet wiederum die Wirtschaft. Auch im Fall der Entlöhnung ist der Staat im Vorsprung. Unsere Forschung zeigt, dass die Löhne alleine beim Bund im Durchschnitt 12 Prozent höher sind als in vergleichbaren Profilen der Privatwirtschaft. Das ist nicht nur finanziell eine Belastung, wenn man bedenkt, dass diese knapp 6,5 Milliarden Schweizer Franken durch Steuern berappt werden müssen – und ich spreche hier nur vom Bund. Es verzerrt den Arbeitsmarkt und letztlich auch die Bildungslandschaft.
Standpunkt: KMU beklagen Nachwuchsprobleme, weil junge Menschen lieber einen höheren Bildungsabschluss anstreben als eine Berufslehre zu absolvieren. Was bräuchte es, um diese Entwicklung zu stoppen?
Christoph Schaltegger: Das duale Bildungssystem der Schweiz ist ein Erfolgsfaktor. Gerade die Berufsbildung erlaubt, dass sich die Bildungsinstitutionen pragmatisch an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientieren und nicht zeitgeistig motivierten Bildungsmoden folgen. Das zeigt auch unsere Forschung: Die soziale Mobilität ist dank unserem dualen Bildungssystem gross. Ich beurteile daher die zunehmende Akademisierung als problematisch. Sie wertet auch die Universitäten und Fachhochschulen ab, die heute zahlreiche Bildungsabschlüsse fernab von den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts anbieten.